In Russland wird die Auseinandersetzung mit den Gräueltaten von Revolution, Bürgerkrieg und Stalinismus auf die vormodernen, despotischen Traditionen des Landes zurückgeführt. Diese Perspektive verankert die Verbrechen in einem Kontinuum der Herrschaft, das lange vor dem 20. Jahrhundert existierte. Im Gegensatz dazu wird der Nationalsozialismus in Deutschland als eine Abweichung betrachtet, die in einem fortschrittlichen, zivilisierten Land entstand. Durch diese Brille wird es möglich, den Holocaust als singuläres Ereignis zu sehen, das aus dem historischen „Sonderweg“ Deutschlands resultierte. Die übrige moderne Welt ist so von der Schuld entlastet. Jedoch führt diese Vergangenheitskonstruktion dazu, dass Deutschlands Umgang mit seiner Geschichte politisch verwestlicht wird. Die Vergangenheitsbewältigung verkommt zu bloßem Politikkitsch.
Die Linke betrachtet den Aufstieg des Nationalsozialismus als historische Niederlage. Sie glaubte, dass Europa vor der proletarischen Revolution stand. Der Nationalsozialismus wird als Triumph der Konterrevolution angesehen, der global und endgültig war. Die moralische Befleckung des Nationalsozialismus ermöglicht es der Linken, bis heute den Antifaschismus zu beschwören und sich moralisch überlegen zu fühlen. Dies stärkt ihre politische Identität und ermöglicht es, die Vergangenheit als Teil eines fortwährenden Kampfes zu interpretieren. Die verschiedenen Perspektiven illustrieren die Komplexität der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Wege, auf denen sie politisch und moralisch instrumentalisiert werden kann.
Der Begriff der „politischen Klasse“ hat in den Medien an Bedeutung gewonnen. Er bezeichnet das Kollektiv von Regierungsmitgliedern, Parlamentariern und Parteifunktionären, die die politische Landschaft eines Landes prägen. Diese „herrschende Klasse“ rekrutiert sich aus einem sozialen Milieu, das sowohl wirtschaftliche als auch politische Macht ausübt. In Ländern mit kontinuierlichem Elitennachwuchs wird die Herrschaftskultur an die Nachkommen und aufstrebende Parvenüs weitergegeben. Dabei existieren verschiedene Übertragungsverfahren.
In Deutschland haben die Revolutionen des 20. Jahrhunderts zu Brüchen in der Herrschaftskultur geführt. Die neu geformte Herrschaft zeigt Merkmale kleinbürgerlicher Unsicherheit, was sich in stilistischen Unterschieden innerhalb des Parteienspektrums widerspiegelt. Generell eint sie aber ein kleinbürgerlich-amorpher Politikstil.
Anders als in Ländern mit einer kulturell geschlossenen herrschenden Klasse hat Deutschland verschiedene soziale Milieus, die ihre politischen Eliten hervorbringen. Die wirtschaftlich Mächtigen haben keine kulturelle Hegemonie mehr und verzichten darauf, sich auf die deutsche Kultur zu beziehen.
Deutschland ist in kultureller Hinsicht ein egalitäres Land ohne eine eindeutig definierte herrschende Klasse. Diese Entwicklung ist nicht bedauernswert, da die Bildung einer herrschenden Klasse nicht entscheidend beeinflusst werden kann. Länder östlich des Rheins haben ähnliche Entwicklungen durchgemacht und ihre Funktionäre spiegeln oft das kulturelle Vakuum wider.
Die Sozialdemokratie gilt als fundamentales Merkmal der deutschen Kultur und Politik. Sie ist geprägt durch das Streben nach der Angleichung der Lebensverhältnisse über das gesamte politische Spektrum hinweg. Besonders nach dem Mauerfall und im Hinblick auf die maroden Städte der ehemaligen DDR machte sich Entsetzen über die Unterschiede und den Verfall breit. Vergleiche mit Ruinenvierteln anderer Länder wie Großbritannien, Frankreich und den USA wurden angestellt. Die Integration der neuen Bundesländer und das Streben nach einem gleichwertigen Lebensstandard im gesamten Land führte zu Kritik an der deutschen Einigung; wegen der Kosten und der Angst vor Einbußen im Westen. Trotzdem beschworen viele den Sozialdemokratismus als kulturelles Phänomen mit tiefen historischen Wurzeln.
Ebenfalls paradox ist die deutsche Haltung gegenüber sozialer Ungleichheit und Umweltschutz, insbesondere bei den Grünen. Die Vorstellung einer einzigen großen, sichernden Volksfamilie steht im Kontrast zur Belastung durch das fortwährende Wirtschaftswachstum. Auch dies offenbart die sozialdemokratische Mentalität, die auf Solidarität und Angleichung abzielt, ohne aber Einbußen hinnehmen zu wollen. Die Spannung zwischen dem Streben nach Gleichheit und der Furcht vor Verlusten prägt weiterhin die deutsche Politik.
Ein Beispiel. Fritz hat Iwan zehn Äpfel gestohlen, Iwan Fritz nur vier. Ein Aufrechner schlägt vor, die von Iwan gestohlenen vier Äpfel von den zehn von Fritz gestohlenen abzuziehen, sodass Fritz dem Iwan nur sechs Äpfel schuldet. Doch ein Moralist widerspricht und argumentiert, dass die Schuld von Fritz nicht durch die Schuld von Iwan gemildert werden sollte.
Ein neutraler Beobachter würde das Verbot des Aufrechnens selbst als eine Form des Aufrechnens betrachten. Der Moralist verteidigt seine Position, indem er erklärt, dass das Verbrechen von Fritz unendlich groß ist, weshalb man jeden beliebigen Betrag von Iwans Schuld abziehen könnte, ohne dass die Schuld von Fritz dadurch vermindert würde.