Der historische Block

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In den 30 Jahren seit dem Ende des Kommunismus gab es in Ungarn verschiedene politisch-ideologische Konfliktfelder. Zu Beginn herrschte historisch bedingt der Konflikt von Kommunisten gegen Antikommunisten; mit der linksliberalen Koalition von 1994 der Konflikt zwischen Progressiven und Konservativen; und seit den 2010er Jahren zwischen Internationalisten und Nationalisten.

Nach 1989 blieben vorwiegend die Altkommunisten in den Machtzentren. Mit den Liberalen setzten sie 1995 einige Sparmaßnahmen und Deregulierungen durch, was die postkommunistische Ära einleitete. Gleichzeitig wurden Entscheidungen getroffen, die die Souveränität Ungarns verringerten. Sie etablierten ein liberales Staatssystem statt eines demokratischen. Der Wunsch nach einem unabhängigen und freien Staat wurde missachtet. Durch ihr mangelhaftes Krisenmanagement entzauberte sich die linke mediale Hegemonie. Bis Ende der 2000er Jahre litt die Glaubwürdigkeit linker Intellektueller stark. Bei Demonstrationen der Opposition kam es zu Polizeigewalt. 2006 verlor das Regierungsbündnis die Kommunalwahlen. Sie hatten nach 20 Jahren ihren exklusiven Anspruch auf die moralische und politische Deutungshoheit verloren.

Die Linksliberalen verließen 2009 die Regierungskoalition und lösten sich nach ihrer Wahlniederlage 2010 auf. Der neoliberale Umschwung hat der sozialistischen MSZP einen langfristigen Vertrauensverlust beschert. Dies half dem Fidesz, sich als neue Kraft zu konsolidieren. Als Orbán 2010 mit den Christdemokraten an die Macht kam, wurde der Systemwechsel wieder beschleunigt. 2011 wurde das Mediengesetz erneuert, 2012 trat eine neue Verfassung in Kraft. Gemeinsam führten sie das „System der Nationalen Zusammenarbeit“ ein.

Einen politischen Wandel herbeizuführen und eine neue Hegemonie zu etablieren, erfordert Jahrzehnte geistiger und politischer Arbeit. Verschiedenste gesellschaftliche Gruppen müssen vereint werden. Es bedarf einer eigenen Bildungselite, die sowohl nach innen Ziele formuliert als auch öffentlichkeitswirksame Überzeugungsarbeit leistet.

In den letzten 10 Jahren ist die Beliebtheit sogenannter „Populisten“ sprunghaft angestiegen. Der britische Journalist David Goodhart führt dies auf eine wachsende Kluft zwischen städtisch-liberalen „Anywheres“ und ländlich-konservativen „Somewheres“ zurück. In den westlichen Nationen bilden die Anywheres die Mehrheit in den obersten Sphären von Politik, Medien, Wirtschaft und dem Bildungssektor. Sie vertreten grundlegend andere Positionen als die untere Mittelschicht und die Arbeiter. Die Somewheres sehen ihre Lebensweise immer stärker durch das Auslagern von Industriebetrieben und die erheblich gestiegene Einwanderung gefährdet. Es ist allgemein zu beobachten, dass frühere Arbeiterparteien die Stimmen der Somewheres immer weiter verlieren. Diese Wähler fordern indes eine wirtschaftspolitisch soziale Politik, während sie gesellschaftspolitisch konservativ bis rechts denken.

In Ungarn begann dieser Prozess schon früher, die Arbeiter stimmten bei der Wahl 1998 für Orbán. Seit 2010 materialisierte sich dieser Umschwung in diversen Maßnahmen: Rückkauf strategisch wichtiger Sektoren, Steuern für Handelsketten und Banken. Die Nebenkosten wurden gesenkt und die Unterstützung für Familien erhöht. Junge Leute unter 25 müssen seit 2022 keine Einkommenssteuer mehr zahlen. International unabhängiger wurde Ungarn durch das Streichen von IWF-Krediten und den Trotz gegen EU-Strafmaßnahmen. Die Außenpolitik zielt auf den Schutz der im Ausland lebenden Landsleute ab. Durch die Möglichkeit zur doppelten Staatsbürgerschaft erhalten diese weitere Vorteile. Regionale Partnerschaften zum Westbalkan oder das Visegrád-Bündnis wurden gestärkt.

Laut Umfragen sind die obersten 10 Prozent der Ungarn Orbán gegenüber oppositionell eingestellt, während die Unterstützung von dort an abwärts proportional zunimmt. Schon früh verstand Orbán, dass man von einer liberal-bürgerlichen Plattform aus ein gesamtgesellschaftliches Angebot bieten müsse. Das Bündnis aus Fidesz und KDNP sieht sich als Vertreter aller Ungarn, also auch der Auslandsungarn. So konnte sich das „System Orbán“ über die Zeit als breiter historischer Block konsolidieren. Er ersetzte die Diskurshoheit des postkommunistisch-liberalen Bündnisses. Frühere politische Konfliktfelder wurden aufgehoben und durch die Verteidigung nationaler Werte und Interessen Einheit gestiftet.